Kirchdorf Rudau

"Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder,
die lang ich vergessen geglaubt!"
A. v. Chantisso


Nichts ist näher bei uns als die Heimat - die Heimat ist in uns - ; und So wandern meine Erinnerungen diesmal vom lieben Nadrau aus, meinem Geburtsort, auf der "Rudauer Chaussee", welche sich als Nebenstraße der "Fuchsberger Chaussee" nach Osten hin dem in seinem Hauptteil auf einem kleinen Höhenzug gelegenen, der Geschichtszahl nach schon sehr alten Kirchdorf Rudau näherte.
Auf meiner Erinnerungswanderung begegnete mir als erstes die uralte Mühle von Gerhard Schadwinkel, die in einem kleinen Tal des Höhenzuges lag und deren Wasserrad sich, wie es die Wasser-Stauakten besagten, schon im Jahre 1530 im plätschernden Rhythmus drehten. Aus dem bei ihr gelegenen Mühlenteich bezog diese Wassermühle seinerzeit das für ihren Betrieb notwendige Wasser. Jetzt war die Mühle schon motorisiert und modernisiert und verarbeitete sauber und schnell das viele Getreide der umliegenden Güter und Bauerngemeinschaften. Das feingemahlene Mehl diente der Brotherstellung und das grobgemahlene Schrotmehl als nahrhaftes Viehfutter. Das würzig duftende Mehl wurde in Säcke gefüllt und auf einem großen Lastwagen, der von zwei kräftigen Pferden gezogen wurde, den Gütern und Bauern wieder zugestellt. Ich erinnere mich noch an den alten "Mehlkutscher Rogge" - ein Vetter von unserem 1. Kutscher in Nadrau Rhode - der das Mehl ausfuhr. Wieviel Säcke mag der alte Rogge wohl bis an sein Lebensende getragen haben? Er verfügte aber über einen starken Rücken und war an die schwere Arbeit gewöhnt. Auch die Gastlichkeit und das gute Verhältnis der Familie Schadwinkel gegenüber meinen Eltern und uns Nadrauer Geschwistern soll hier mit vielem Dank in Erinnerung gebracht werden. Wieviel gemütliche Stunden bei Kaffee und Kuchen, beim monotonen Rattern der Mühlräder haben wir im Heim der Familie Schadwinkel verbringen dürfen - sorglose Stunden!
Der Schadwinkelschen Mühle gegenüber, durch die Straße getrennt, lag der Mühlenteich, der wohl jahrhundertelang die Wassermühle gespeist und das Wasserrad in Bewegung gesetzt hatte. Ihn umrandete an einer Seite ein kleiner Höhenzug, genannt der "Amtsberg", der im Sommer den Dorfkindern als Spielplatz diente und im Winter, von vielem Schnee eingedeckt, ein herrliches Rodelterrain zum zugefrorenen Mühlenteich war. Die evangelische Ordenskirche (siehe Bild im Samlandheft 1967, Folge 14), der Friedhof, das Pfarrhaus und das Schul- und Kantorhaus waren auch auf der Anhöhe gelegen.
Doch ich will meinen Wanderweg von der Mühle aus gerade weitergehen. Nicht weit von dem Mühlenwerk stand die Schmiede von Schmiedemeister Albrecht Möller (auf der linken Seite der Dorfstraße), welche jetzt etwas bergan ging. Herr Möller hatte die Schmiede, das Wohnhaus und den Garten von Gärtner Funk gepachtet. In seinem Hause war immer Leben, seine sechs Kinder sorgten dafür. Er selber war ein tüchtiger Mann seines Berufs, und unter seiner geschickten Hand hat so manches Pferd die Eisen unter die Hufe bekommen und auch viele Wagenräder ihren Eisenbeschlag. Ich sehe ihn noch vor mir mit seinem langen, fliegenden Bart. Nicht weit von Möllers Haus erreichte man die erste Seitenstraße (links), sie führte auf den Weg, nördlich gelegen, nach Trassau-Mülsen. Auf dieser Straße begegnete man auch der historischen Säule, ein schlichtes stehendes Kreuz auf einem Steinsockel, zum Gedenken an die Schlacht bei Rudau am 17. Februar 1370 (Bild in Folge 14). - Über die Schlacht von Rudau ist viel geschrieben worden. Es ist durchaus möglich, daß Hans von Sagan, Sohn eines Königsberger Schusters, an der Schlacht bei Rudau teilgenommen und sich heldenhaft bewährt hat. So singt Franz von Pocci von dem wackeren Gesellen:

     Es lebe hoch im Liede der edle Handwerksstand!
     Manch köstlich Kleinod danken wir seiner treuen Hand.
     Ich weiß Euch einen Schuster, im Handwerk wohl geschickt,
     der tapfer auch dem Feinde am Zeuge hat geflickt.
     Zu Rudau war's in Preußen, wo mancher Held erblich.
     Es sank die Kreuzesfahne, das Heer des Ordens wich.
     Schon stürzten wie die Wölfe die Sieger auf den Raub,
     da hob ein Schuster mutig die Fahne aus dem Staub.

Die Schlacht bei Rudau tobte trotz großer Verluste des Ordensheeres. Hier wurde auch der Ordensmarschall Hendrick Schindekopf tödlich verwundet. Ihm zu Ehren für seine Tapferkeit ist die Rudauer Säule gesetzt worden. In der Kirche zu Rudau hingen auf einer Denktafel Helm, Eisenhandschuhe und der Marschallsstab des Marschalls Hendrick Schindekopf. Und die Unterschrift kündete: "In memoriam proelii Rudavien in Anno Christi millesimo trecentesimo septnagesimo." Oft haben wir vor dieser Tafel gestanden und uns die Inschrift eingeprägt, - Ich wandere wieder nach Besichtigung der denkwürdigen Säule den kleinen Seitenweg zurück ins Dorf. In dieser Seitenstraße standen auch mehrere Wohnhäuser. So kann ich mich erinnern, da in einem dieser Häuser auch der Briefträger Riedel wohnte; wie beliebt war er doch und immer voll Humor, obwohl sein Beruf damals als Landbriefträger kein leichter war, besonders im harten Winter, wenn die Chaussee oder der Landweg zu den "Landleuten" oft sehr verschneit oder gar überfroren war, und dazu eine klirrende Kälte. Ich habe ihn aber nie unmutig erlebt, und sein Humor, der ja dem Ostpreußen vielfach eigen war, half dem treuen Briefträger über manch Unerträgliches hinweg. Der Schmiede von Möller gegenüber lag der "Amtskrug", dessen Besitzer des öfteren gewechselt haben. Ich kann nichts Genaues darüber berichten. Weiter wohnten an der langgezogenen Dorfstraße (auch links) der Friseur Krug, der Schuster Otto Griese und auch der Bäcker Margenfeld. Der Friseur Krug war wohl ein begehrter Friseur, so manchen Bart mag er wieder richtig zurechtgestutzt oder auch hin und wieder abgeschnitten haben. (Die Mode war ja damals bei den Männern ein glattrasiertes Gesicht.) Er war ein Meister seines Berufs und wurde auch viel von den Herren der Umgegend aufgesucht. Eine kleine Anekdote will ich noch hinzufügen: Es war im Jahre 1925, als mein Mann und ich in Rudau standesamtlich und auch kirchlich getraut werden sollten. Ich hatte mir gewünscht, da unser Kutscher Franz Rohde uns im Coupe mit meinen Lieblingspferden zu diesen beiden Trauungen nach Rudau fahren sollte. Natürlich zog er auch dazu den besten Kutschermantel an, und der steife Hut stand ihm auch gut zu Gesicht. In aller Morgenfrühe des Hochzeitstages machte er sich schon auf den Weg nach Rudau zum Friseur Krug, es war ja selbstverständlich, daß sein Kopf und sein Gesicht auch für diesen hohen Tag besonders gut gepflegt sein mußte. Er hatte aber erst einmal Pech, da ihm ein anderer zuvorgekommen war, und das Warten, bis er auf diesem würdigen Stuhl säße, kam ihm fast unerträglich vor. Die Minuten vergingen, sie häuften sich zur halben Stunde an, dann war er an der Reihe - endlich! Stolz saß er auf dem Stuhl und ließ alles gewähren, was notwendig war. Fast war die Prozedur zu Ende, und Franz war gerade tüchtig eingeseift, da ging die Ladentüre auf, und ein eleganter Herr trat ein, brachte sofort sein Anliegen vor, daß er schleunigst rasiert werden müßte, daheim in Rastenburg wäre er nicht mehr dazu gekommen, er wäre in aller Frühe von dort fortgefahren, um rechtzeitig zur Hochzeit nach Nadrau zu kommen, und außerdem wäre er auch noch Trauzeuge, also alles wichtige Angelegenheiten. Franz sah meinen Schwager grimmig an, verblieb aber auf dem Stuhl und erklärte, daß er auch für die Nadrauer Hochzeit "gut rasiert" sein müßte, denn er fahre heute das Brautpaar zum Standesamt und am Nachmittag zur Kirche. Sie einigten sich alle drei gütlich und jeder kam nun zu seinem Recht und gottlob auch noch zur Zeit zum Standesamt und zur Kirche ...
Schuster, bleib bei deinem Leisten! Dieser Ausspruch paßt genau auf den Schuster Otto Griese, er war seinem Beruf treu und arbeitete sehr eigen, er bewohnte auch ein eigenes Häuschen. Brachte man Schuhwerk zu ihm, so konnte man sich auf pünktliche Ablieferung und ein gutes Besohlen usw. verlassen, und nie drückte der reparierte Schuh. - Nicht weit von dem Eigentum des Otto Griese lag die Bäckerei von Herrn Margenfeld. Kam man an seinem Laden vorbei, so konnte man von dem köstlichen Kuchenduft nicht abkommen, und so trat man in den kleinen Laden, nachdem wohl schon die alte Klingel mit viel Geläute die Ankunft des Kunden meldete. Vor dem Tresen stand dann auch schon Bäcker Margenfeld bereit, wohlgenährt und freundlich fragend: "Womit kann ich dienen?" Ja, er wußte, was die Nadrauer Fräuleins am liebsten an Kuchen aßen, und immer gab es neben dem Gekauften einen Zuckerkringel für jeden hinzu, den wir dann rasch auf der Nachhausefahrt vernaschten. Nicht weit entfernt von der Bäckerei Margenfeld war das Standesamt, betreut von dem Standesbeamten Herrn Koslowski, wo ich auch mit meinem Mann standesamtlich getraut wurde. Ich erinnere mich noch an weitere Rudauer Handwerker: da gab es den Stellmacher Herrmann, die Maurer Klein und Wirbel - letzterer hat auch viel in Nadrau gearbeitet - und den Besitzer des Sägewerks, Herrn Schönwald. Auch Sattlermeister Vogel war ein sehr begehrter Mann mit seiner Tätigkeit. Wie oft war er auch bei uns in Nadrau, denn zweimal im Jahr wurden alles Sattelzeug, Geschirr und Leinen eingehend überholt. Immer war Sattlermeister Vogel pünktlich zur Stelle, ebenso Herr Anders, der Töpfermeister, welcher auch bei uns daheim viel mit den zu reparierenden Öfen zu tun hatte. Ja, die Rudauer Handwerker, welche reelle Arbeit leisteten, nicht nur im Kirchdorf Rudau, sondern auch auf den umliegenden Gütern, waren wirklich ein Juwel und auch als Menschen ansprechbar. Sie hatten besonders zu meinem Vater ein recht gutes Verhältnis. Es wurde ihnen auch von Vaters Seite her des öfteren geholfen, so bekamen sie das Holz aus unserem Walde billiger oder auch Kartoffelland u. a. Dieser Gemeinschaftssinn brachte sich auf beiden Seiten gut ein und war außerdem selbstverständlich. Kolonialwaren, ab und an auch Haushaltswaren und Textilien und auch Bier, Wein und Liköre gab es bei dem Gasthausbesitzer Keichel. (Sein Haus, Laden und auch ein geräumiger Saal lagen auch auf der linken Seite der langen Dorfstraße.) Auch hier machten meine Mutter und wir Töchter oder der Kutscher Einkäufe für den großen Gutshaushalt. Besonders gut schmeckte Keichels Braunbier, welches wir beim Anhalten in Rudau, wenn wir von der Eisenbahn von Mollehnen kamen (Mollehnen war für Nadrau die beste Zugverbindung nach Königsberg mit der Königsberg-Cranzer Eisenbahn) und als junge Dinger gut schmecken ließen. Es machte uns immer besonderen Spaß, wenn Herr Keichel seinen Kommis beauftragte, uns dies Getränk noch zu versüßen, Da der Kommis nach unserer Ansicht bestimmt einen doppelten Schnurrbart trug, war uns das Lachen schon nahe, doch dann nicht mehr zu unterdrücken, wenn der Kommis seinen Bleistift hinter dem rechten Ohr hervorholte, ihn mit der Spitze nach oben drehte und mit dem stumpfen Stiel anstatt eines Löffels, der nicht gleich zur Hand war, unser gesüßtes Braunbier noch einmal kräftig umrührte. Trotz dieser nicht sehr sauberen Angelegenheit schmeckte uns das Getränk vorzüglich. Na, prost! Dann saßen wir bald wieder auf dem Wagen, Richtung Nadrau.
In dem geräumigen Saal von Herrn Keichel (später war der Besitzer Herr Witzki) spielten sich viele Geselligkeiten ab. So gab dort der Kriegerverein seine Feste, auch der Gesangverein, oder es wurden dort auch politische Vorträge gehalten. Wir Nadrauer Mädels machten im Sommer immer die Feste des Kriegervereins mit, so fuhren wir mal mit Rudauer Töchtern zusammen, angezogen als Zigeunerinnen (überwiegend blonde Zigeunerinnen), in einem geschmückten Leiterwagen mit Musik zuerst durchs Dorf, dann endeten wir Tanzenderweise in dem Gasthaussaal von Keichel und ließen uns bewundern. Welch schöne Erinnerungen! Oder es gab auch zum Advent weihnachtliche Aufführungen. Auch in Rudau, für damalige bescheidene Zeiten, spielte sich ein reges Leben ab, besonders im Winter.
Ich gedenke auch noch mancher Einwohnerrinnen von Rudau, welche sich nützlich betätigt haben und ihren Beruf gut und redlich ausführten. So Frau Gedenk, die Hebamme, welche in ihrem Beruf sehr viel unterwegs war. Wer kann die vielen Kinder zählen, welche Frau Gedenk, eine stattliche Erscheinung, mit ihrer Hilfe zur Welt gekommen sind? In Nadrau stand für Frau Gedenk ein bestimmter Wagen zum Abholen unter der Remise bereit, es war der "Hebammenwagen". Neben Frau Gedenk führte auch Fräulein Berta May geschickt und sauber ihren Beruf als "Weißnäherin und Schneiderin" aus, so hat sie auch für mich einen großen Teil meiner Aussteuer genäht, dann war sie tagelang im Gutshaus.
Für die Verwaltung der Post fanden sich als zuverlässig nur Frauen. (Die Post lag schon am Ende des Dorfes.) So leitete zu Anfang (so weit ich mich erinnern kann) ein Fräulein Evert die Post. Oftmals brachte sie auch selber die Post, anscheinend fanden sie damals noch keinen richtigen Mann dafür. Vorher, so erinnere ich mich, war Fräulein Evert in der Molkerei tätig, die schon an der Chaussee nach Rudau-Mollehnen lag. Fräulein Evert trug schon damals kurzgeschnittenes Haar, was natürlich auffallend war und nicht als passend angesehen wurde. Ihre Nachfolgerin an der Rudauer Post war wiederum ein schon älteres Fräulein, Therese Borchert. Sie war sehr zuverlässig und immer hilfsbereit. Wieviel Liebesbriefe, aber auch traurige Meldungen sind wohl durch ihre Hände gegangen. Ich glaube, sie war am längsten an der Rudauer Post und ist meines Wissens dort auf dem schönen Friedhof beerdigt worden.
Noch zu erwähnen ist der Tischler Erwin Thiel. Wie viel Möbelstücke hat er neben anderen Holzarbeiten angefertigt! Auch sein Handwerk war in seiner Ausführung recht eigen. Für meine Aussteuer hat er auch mit beigetragen, indem er aus Nadrauer Holz einige Möbel angefertigt hatte. So besitze ich noch eine Küchenbank, welche ich auf Irrwegen nach Kriegsende gerettet habe und mich immer wieder an die Heimat und unseren schönen Wald erinnert. Herr Thiel war nach Kriegsende nach Holstein vertrieben, er selber lebt nicht mehr, aber seine Tochter Herta wohnt noch in Glückstadt/Holstein.
Der Rudauer Gendarm Gravenius ist vielleicht manchem Leser bekannt, ebenso der damalige und wohl letzte Bürgermeister von Rudau vor der Vertreibung, Herr Friedrichs.
Auch gab es in Rudau eine Molkerei-Genossenschaft und eine Raiffeisen-Kasse. Ich komme jetzt auf meiner Wanderung an das Ende des Dorfes, in der Richtung nach dem Gut Tiedtken, dort lag das Haus von dem Fleischermeister Otto Godau, einem sehr vergnügten Mann, fast ein Original, immer hilfsbereit und aufgeschlossen. Wenn wir daheim in Nadrau schlachteten, wurde Otto Godau dazu gebeten. Aber auch aus seinem Fleischerladen haben wir, besonders im Sommer, viel für den großen Gutshaushalt gekauft. Telefonisch nahm dann Otto Godau unsere Wünsche an Fleisch, Wurst und dergleichen entgegen. Er trug alles von uns Gekaufte in ein Buch ein und rechnete immer zum 1. jeden Monats mit meiner Mutter ab. Und bei den Bestellungen wiederholte er am Apparat die erbetene Ware: "Also, Frau Gädeke oder Fräulein Gädeke, ich wiederhole noch einmal: Soviel an Wurst, Talg - und wie war es doch schon - wieviel Karbunde? Ach ja, wird gemacht. Heute sind die ‚Karbunde-Stücke' sehr gut ausgefallen." Er meinte dann immer Karbonade, aber es blieb bei ihm bei der "Karbunde". Dann kicherte er noch einmal ins Telefon und verabschiedete sich in den höchsten Fisteltönen. Wir Nadrauer Töchter fanden, daß Herr Godau fast genau wie ein Schwein mit seiner Sprache "quiekte". Es machte ihm nichts aus, wenn wir ihm davon erzählten, er konnte Spaß vertragen. Soviel ich mich noch erinnern kann, ist Herr Godau auf dem Rudauer Friedhof beerdigt worden.
Dem Rudauer Kirchspiel gehörten etwa 26 Gemeinden an, es waren Bauerngemeinden und mehrere Güter. Ich nenne hier die Namen: Jaxen, Tiedtken, Maldaiten, Sandhof, Kemsie, Heybüchen, Nadrau, Sasslauken, Sergitten, Mogahnen, Pluttwinnen, Gerstehn, Adamsheide, Joklauken, Eisselbitten, Ekritten, Sporwitten, Witthenen, Forsthaus Georgenhöh, Kirschnehnen, Dollkeim, Nautzau, Weischkitten, Grünhoff, Michelau und Friedrichswalde.
Doch nun wieder zurück zum Kirchdorf Rudau. Ich berichte noch von der Apotheke, der Schule des Dorfes und zum Schluß von der alten Ordenskirche, ihren Seelsorgern und Küstern und von dem Friedhof. Kurz vor Beendigung der Dorfstraße geht es links zur Rudauer Chaussee. Sie endete am Bahnhof Mollehnen. Dort, wo die Dorfstraße links zur Chaussee nach Mollehnen ging, im rechten Winkel lag das Haus der Apotheke, Besitzer war damals Herr Gerhard Schadwinkel, Inhaber Herr Arthur Klein, der Apotheker, an den ich mich noch gut erinnern kann. Wie oft haben wir bei ihm unsere medizinischen Besorgungen gemacht. Herr Klein war auch ein stets gefälliger Mann; er stellte sich auch einmal zur Verfügung für eine Aufführung, es ging wohl um eine Barbarossa-Aufführung für den Kriegerverein. Nun fehlte noch der Mann, welcher den Barbarossa spielen sollte, und da Herr Klein einen so schönen rötlichen Vollbart hatte, war er äußerlich gesehen der gegebene Mann für diese historische Aufführung. - Ungern machte aber Herr Klein den Weg nach der Bahnstation Mollehnen zu Fuß. Damals verfügten nur wenige Menschen über ein Auto, es war noch eine Seltenheit! Herr Klein verband seine Reisen nach Königsberg immer mit unserer Fahrt nach Mollehnen. So stand er schon zeitig an seinem Haus bereit und hielt Ausschau auf unseren Kutschwagen. Immerhin kam er mit unserem Gefährt schneller zum Bahnhof. Aber unsere sehr nervösen Pferde lagen ihm gar nicht. Er saß selten auf dem Sitz. Um der größeren Gefahr vorzubeugen, hatte er schon gleich seine langen Beine dem Trittbrett nahe, um sich retten zu können, wenn etwas passieren sollte. Uns jungen Dingern machte seine Angst natürlich Spaß, es geschah aber nichts, der Kutscher Franz hatte seine Lieblinge gut an der Leine. - In dem Hause der Apotheke wohnte auch der Arzt und hielt auch dort seine Sprechstunden ab. Herr Dr. Wolter war ein behäbiger und auch ruhiger Mann, dafür desto lebhafter und interessant seine Frau. Frau Wolter war dem Tanz verschworen und hat noch bis in das späte Alter hinein Tanzstunden gegeben. Ich glaube, sie war 75 Jahre alt, als sie dem Tanz ade sagte. Ihre Gastlichkeit, ihr offenes Haus für viele soll hier nicht vergessen sein; so haben sie jahrelang die verwitwete Mutter von Agnes Miegel bei sich aufgenommen und betreut, sie knüpften mit dieser einsam gewordenen Frau ein festes Freundschaftsband, bis sie selber, ihres fortgeschrittenen Alters wegen, nach Königsberg zogen und dort ihren Lebensabend verbrachten. Es kann auch sein, da Herr Dr. Walter noch in Rudau verstorben ist, ich weiß es nicht mehr genau. Der Nachfolger war Dr. Walter Pilz, er ist lange in Rudau und der Umgebung tätig gewesen, mir selber ist aber entgangen, wie lange er in Rudau ansässig war und wo er später mit seiner Frau - sie waren kinderlos - wohnhaft geworden ist. Heute leben sie wohl beide nicht mehr.
Mein Wanderweg endet auf dem kleinen Höhenzug, welcher sich, wie ich schon einmal erwähnte, an dem Mühlenteich entlang zog. Jetzt bin ich auf der rechten Seite der Dorfstraße. Hier standen auf dem kleinen Höhenzug die Rudauer Ordenskirche, umgeben vom Friedhof, das Pfarrgrundstück und das Schul- und Kantorhaus. Auch gab es dort in der Nähe den "Kirchenkrug", sein Inhaber war Herr Schneider. Gustav Singer war viele Jahre an der Rudauer Dorfschule Hauptlehrer und ebenfalls auch Kantor; genau 20 Jahre hat Herr Gustav Singer diese beiden Berufe sehr exakt ausgeführt. Er war von 1902 bis 1922 in Rudau tätig, vorher erster Lehrer in Pluttwinnen, seine erste Lehrerstelle erhielt er in Maldaiten bei Rudau. Ja, er war ein sehr beliebter und überall gern gesehener Mann, stets gut gelaunt, froh und humorvoll. Er war auch Leiter des Männergesangvereins und des Kirchenchores und selbst der größte Tenor weit und breit war auch "Bienenkönig" des Samlands und Rechner des Raiffeisenvereins, wo er so vielen helfen und viele beraten konnte, hilfsbereit bis zur Selbstaufopferung. Auch mein Vater würdigte die Verdienste von Herrn Gustav Singer. Leider sind beide so vielschaffenden Männer früh verstorben. Herr Singen starb im September 1922 und ist auch auf dem Rudauer Friedhof beigesetzt worden. Mein Vater folgte ein Jahr später Herrn Singer im Tode nach und liegt im Nadrauer Wald, wo wir einen Friedhof anlegen durften, beerdigt.
Eine kleine Anekdote charakterisiert Herrn Singer: In der Nacht wird er aus dem Bett geholt: "Herr Kantor, Herr Kantor, helfen Sie uns. Ein Schwein ist mir vom Wagen gesprungen, und allein werden wir damit nicht fertig." Er springt also auf und hilft, das Schwein wieder aufzuladen. Am nächsten Morgen merkt er erst, es war sein eigenes Schwein, das er hatte aufladen helfen. - So ist er stets frohgemut durchs Leben gegangen, bis er plötzlich acht Tage nach seinem 60. Geburtstag an einem Schlaganfall kurz und schmerzlos hinüberging. Auch Frau Singer war eine sehr fleißige und liebenswürdige Frau, eine gute Mutter ihrer vier Kinder. Später, als ihre Kinder erwachsen und auch verheiratet waren, lebte sie wohl bei dem verheirateten Sohn Erich Singer in Cranz und ist dort im Jahre 1941 gestorben, doch in Rudau neben dem Grab ihres Mannes beigesetzt worden. - Noch zu erwähnen ist Herr Erwin Fett, der mehrere Jahre Zweiter Lehrer an der Rudauer Dorfschule war, heute lebt Herr Fett als Schulrat a.D. in Braunschweig.
Auch das Pfarrgrundstück erstreckte sich hübsch gelegen auf dem kleinen Höhenzug. Ich selber kann mich nur an Herrn Pfarrer Korth besinnen, er starb auch 1922, und sein Nachfolger war Pfarrer Gohr, ein noch jüngerer Geistlicher. Küster war jahrelang Herr Neubauer. Der Friedhof, welcher sich etwas bergig am Hang des Mühlenteichs hinzog, beherbergte schon zu meiner Zeit viele Gräber von Rudauern, aber auch von vielen aus der Umgegend, so unseren Kutscher August Rohde und den langjahrigen Schafmeister Karl Sonnabend aus Nadrau. Der Friedhof muß schon sehr alt gewesen sein, so fand man auf ihm einen Grabstein aus dem Jahre 1596, natürlich war er mit der Zeit recht verwittert, doch seine Inschrift noch lesbar: "Hier ruht Margarethe Gaudecker, die Ehefrau des Caspar von Olsen." Später hat man den Stein in der Kirche zu Rudau auf bewahrt.
Mein letzter Gang endet in der alten Ordenskirche zu Rudau, von außen her gesehen ein gewichtiger Bau wie alle Ordenskirchen. Wie lange mag man an diesem Bau gearbeitet haben, vielfach Handarbeit, Stein an Stein gesetzt und verputzt, viel Fleiß gehörte bestimmt dazu und auch viele Jahre. Der Inneneindruck war auch gewaltig, durch seine Länge und Breite. Viele Sitzreihen gaben den Gemeindegliedern genügend Platz. Die Akustik war außerordentlich gut durch den richtigen Platz der Orgel, welche wohl viel Pflege bedurfte und dafür klangvoll und gut hörbar ihre Stimme wiedergab. So habe ich auch in der Kirche Konzerte erlebt. - Zu der Geschichte der Bildhauerkunst in Ostpreußen vom Ausgang des 16. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt es über die Rudauer Kirche: "Mit der Werkstatt Döbel hängt vielleicht auch die Kanzel in der evangelischen Kirche zu Rudau zusammen, deren Wirkung heute leider durch den schrecklichen braunen Anstrich beeinträchtigt wird. - An Schnitzereien sind vorhanden: als Träger ein Engel mit vortretendem Leib und ausdrucksvollem Gesicht, doch zum Teil missglückten die Einzelheiten (siehe den linken Arm). Das stark entwickelte Kinn gibt dem Kopfe ein eigenes, persönliches Aussehen. An dem Kanzelkörper die Bildwerke des Erlösers und der vier Evangelisten, lebhaft bewegt und gut in der Gewandbehandlung, besonders die des Johannes und des Heilands.
Über der Tür ein Engel. Wenn auch einzelne Zierteile im Sockel des Kanzelkörpers auf den Anfang des 18. Jahrhunderts schließen, so dürften die Bilderreihen doch bis auf die Zeit zwischen 1695 und 1700 zurückreichen.
Meine Erinnerungswanderung durch das Kirchdorf Rudau ist beendet, alles stand wieder so nahe vor mir, Menschen des Dorfes, ihre Häuser, ihre Eigenarten und vieles andere.
Wir wissen leider, daß wir die Heimat durch die Kriegswirren des zweiten Weltkrieges und deren Folgen verloren haben, doch unsere Erinnerung, unser größter Schatz, den uns niemand rauben kann, hält alles geborgen, auch dich, du mein liebes Rudau, einst historische Stätte unseres SamIands.


Ilten / Hann., im Oktober 1971
Christel Papendick-Gädecke

Nachschrift: An alle Leser des Heimatbriefes ergeht die Bitte, gerettete Bilder von Rudau dem Kreisarchiv in Pinneberg zur Verfügung zu stellen, damit auch dieser geschichtlich denkwürdige Ort auch in Bildern der Nachwelt in Erinnerung gebracht werden kann. Von eingesandten Bildern werden Abzüge gefertigt, und die Originale werden alsdann den Eigentümern zurückgesendet.
(Kreisarchiv Fischhausen in 208 Pinneberg, BismarckStraße 45).

Quelle: "Unser schönes Samland" - Heimatbrief für den Kreis Fischhausen -
Ostpreußen - Folge 32, Dezember 1971, Seite 35-42


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